
Etwas ist Un. Gewohnte Aspekte der Welt scheinen zu entgleiten. Aus dem Staub, der aus den Rissen tritt, die die tektonischen Verschiebungen hinterlassen haben, tauchen neue Phänomene in der Welt auf. In diesem Zustand der Verlagerung bleibt uns ein wachsendes Bewusstsein, dass die Grundlagen unserer Systeme, Überzeugungen und Annahmen fragil sind. Symptome können in politischen, wirtschaftlichen, ökologischen, institutionellen, sozialen und psychologischen Sphären beobachtet werden. Die Un Serie versucht als Seismograph dieser Regungen zu agieren und fragt in den Worten von Jacques Rancière: „Was bedeutet es, Un zu sein?“ Wir entdecken das Un in verschiedenen Bereichen, die einer tiefgreifenden Transformation unterliegen und den Zustand des Seins neu konfigurieren.
Programm 2019—2021

Un 1 — Medienkultur und Informationstechnologie
„Uncanny Interfaces“ (2019, Textem Verlag Hamburg)
Un 2 — Unternehmertum und Gegenkultur
„Unsettling Entrepreneurship“
Un 3 — TBA
Die zum Teil schmerzlich offensichtlichen Schlagworte dieser Verschiebungen können schnell formuliert werden: Technologie und Digitalisierung; Globalisierung; ökologischer Wandel; kulturelle, politische und religiöse Verhandlungen; Ungleichheit in Perspektive, Ressourcen, Kapital und Chancen. Einige dieser Begriffe sind „entwaffnet“ und durch den Diskurs und gewohnheitsmäßigen Gebrauch entleert.
Dieses aktuelle Un bezieht sich auf das existentielle Un der lebenden Organismen, der Existenz selbst, diesem Tanz mit dem Tod. Weitere Spuren der existentiellen Negation finden sich in vielen Erzählungen und philosophischen Konzepten. Diese (gefährlichen) Ideen weisen auf den Bereich des Verdachts und des Zweifels an dem ontologischen Zustand. Ein Kernproblem der Ontologie ist die Integration der scheinbar gegensätzlichen Konzepte von „Sein“ und „Nicht-Sein“, „Realität“ und „Fiktion“ oder, wie Vilém Flusser sagt, der „Nichtrealität“.
Im unheimlichen Tal der Negation findet man auch Vorstellungen der Negation des Menschen. Die Un Serie konzentriert sich nicht auf die immer noch aktuellen posthumanen Szenarien. Die Horrorgeschichten, Werke des philosophischen Pessimismus und des Nihilismus in allen Ehren. Aber wir mögen auch das Ende der Fernsehserie True Detective, in der Rust Cole trotz seiner Kenntnis über den Horror der Philosophie (Nietzsche, Sartre, Cioran, Ligotti, Thacker) Hoffnungen in den Wolken findet. Der Versuch des Nihilismus sträubt sich auch vor dem Hintergrund der Katastrophen des 20. Jahrhunderts und ihrem heutigem Wiederhall.
Bestimmte Dinge, die als tot und verschwunden bezeichnet wurden, erhalten ein „zweites (Un) Leben“, wie es der mittlerweile verstorbene Marc Fisher in Bezugnahmen auf Derridas „Hauntology“ geschrieben hat. Die Un Serie versucht Fragen dieser Art zu bearbeiten. Was könnte „Untologie“ also bedeuten? Und wie könnte es möglich sein, in der dargestellten Komplexität zu handeln?
Kraft der Negation

Man könnte meinen, das Präfix un- sei nur ein Zeichen, welches das danach Folgende ausschließlich negiert. Es tut mehr. In vielen Fällen bewahrt es zu einem gewissen Grad den Gegenstand seiner Verneinung. Un schafft einen Raum für Verhandlungen und Interferenz. Diese Beibehaltung und Verwandlung der Negation kann auch in den denkenden Traditionen der Negation von (öffentlichen) Orten beobachtet werden. Edward Relphs Displacement, die Heterotopie von Michel Foucault, die Raumkonzepte von Michel de Certeau und natürlich Marc Augés berühmter Nicht-Ort. Durch die Untersuchung bestimmter Räume anderer Bedingungen können wir Normalität und Gewöhnliches anders sehen.
Wenn wir von „Negation“ sprechen, ist dies keine moralische Bewertung. Die „Negation“ trägt nicht die Informationen, ob es eine gute oder schlechte Sache ist. Aber es ist eine Veränderung eines bestimmten Zustands, der — wie bereits erwähnt — Aspekte des alten Status‘ gegenwärtig und lebendig hält. Manchmal sind sich die Objekte der Negation ihrer Transformation gar nicht bewusst.
Das Präfix un- selbst, das in vielen Sprachen zu finden ist und ebenso — als Konzept — in Kulturen, hat eigene Bedeutungen und Kräfte. Philosophische Denker haben daran gearbeitet, was im Un eingebettet ist. Martin Heidegger konnte diese Dynamik am Beispiel des altgriechischen Worts für „Wahrheit“, aletheia, zeigen. Wahrheit kann — im Altgriechischen — nur durch die Negation von „Schließung“ und „Verschleierung“ beschrieben werden; als „Aufdeckung“ oder, wie wir sagen könnten, „Offenlegung“.
Un Methode

Wenn wir diese Begriffe der Vorstellung von „unserem“ Sein zuordnen, versucht eine Untologie den bestimmten Zustand der Wesen, die die Welt sind, zu erfassen. Der Zustand unseres persönlichen Seins, der Zustand des Seins unserer Organisationen und Institutionen, der Zustand des Seins des Planeten, von und auf dem wir leben. Es gibt Spuren laufender Prozesse der Negation. Der Akt des Sprechens, um etwas in den Zustand des Un zu wandeln, kann jedoch ein kritischer Versuch sein.
Ein Beispiel: In den frühen 2010er Jahren wurde der Hashtag #unkanye auf Twitter eingesetzt, um öffentlich zu negieren, was Kanye West damals war, oder genauer: was er geworden war. Die entscheidende Lektion, die man von den enttäuschten Kanye West-Fans lernen kann, ist, dass es notwendig erscheint, das Objekt der Kritik zu kennen, vielleicht das Objekt der Kritik sogar inständig zu lieben. Und — im Prozess der Negation des kritisierten Objekts — das Objekt selbst zu behalten. Genau das ist es, was unsere Negationsmethode zu vermitteln versucht. Diesem Beispiel folgend, werden wir nur über Themen sprechen, die wir lieben oder zumindest gut zu kennen glauben.Un Series versucht, die Unwahrscheinlichkeit und Unmöglichkeit des Diskurses in Frage zu stellen, indem verschiedene Stimmen aus verschiedenen Hintergründen auf einer Plattform gesammelt werden, um Themen zu besprechen, die für uns wichtig sind (und verneint werden können).
Wir haben ein Programm entwickelt, um die Methode zu testen und zu üben. Die Website uncannyissues.com dient als Drehscheibe für die verschiedenen Aktivitäten. Wir markieren die Negation, indem wir Derridas Spiel mit Worten und Klängen der Différance folgen, aber natürlich auch der Hauntologie mit dem negierenden Alpha, das wir am Anfang der Objekte verstecken.
Das Projekt Un Series ist assoziiert mit dem Institut für Theorie und Praxis der Kommunikation an der Universität der Künste Berlin; Text: K.D. Haensch; Herausgeber/in der Buchreihe: ebd., M. Planitzer, L. Nelke; Verlag der Buchreihe: Textem Verlag Hamburg. Gestaltung: L. Nelke. Programmierung: M. Planitzer.